JG Logo

Texte zur WERKSTATT


27. Jun. 2018

Nach Hause | Programm | KünstlerInnen

AN DIE NACHGEBORENEN

II

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt Bin ich verloren.)

Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich.

Ich wäre gerne auch weise
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Ihr aber, die ihr auftauchen werdet aus der Flut,
in der wir untergegangen sind
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht                                     

     (Bertold Brecht 1934 – 38)

 

Ja, wahrlich: ich lebe in finsteren Zeiten.

Wo eine kritische Nachfrage den Unmut erst des Lehrers, dann der ganzen Klasse einbringt. Wo die Teilnahme an einer Anti-Nazi-Demo mich ins Visier der Polizei bringt. Wo ein „U-Bahn-Lied“ völlig okay scheint, aber ein Schal im Sommer ein Verbrechen darstellen kann. Wo ein Grafitti als gefährlich gilt und entfernt wird… – Irgendwie macht es keinen Spaß mehr. Ja, es herrschen finstere Zeiten.

Und doch: Es ist unsere Zeit, unsere Stadt, unser Leben. Ein anderes, ein besseres kriegen wir nicht.

So versuchen wir, daraus das Beste zu machen, eine WERKSTATT, und dazu das passende Thema:

„Wo unser Leben geblieben ist“

Was eine Frage scheint, ist eine aktive Aufgabe, streit- und angriffslustig: Wer stiehlt mir die Zeit, die Neugierde, die Lust am Leben? Woher das Gefühl, daß ich nur noch funktioniere?

Danach haben wir in den letzten Wochen und Monaten gefragt und Antworten gesucht; Wir waren zum NSU-Prozeß, auf Demos gegen AfD- und Nazi-Aufmärsche, ein Theaterstück wurde eingeübt, eine neue Band gegründet, jede Menge Interviews zum WERKSTATT-Thema geführt…

Was wir „gefunden“ haben, kann sich sehen lassen: von den eingeladenen Bands, dem Theaterstück, der Holzwerkstatt mit deren Eröffnung bis hin zu den Referenten mit ihren Gesprächsrunden, und, nicht zu vergessen: das Puppentheater am Sonntag.

Eine Woche voller Musik, Aktionen und – wenn es eine richtige WERKSTATT wird – voll mit Leuten; und Zeit wird sein, füreinander und miteinander, und es wächst und gedeiht, und wir wachsen mit. Denn es ist unser Leben und unsere WERKSTATT.